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D. Kehlmann: Die Vermessung der Welt
Rowohlt Verlag, Reinbek 2005, 380 Seiten, € 16.60, ISBN 3-498-03528-2.

Literarische Doppelbiographie von zwei Wissenschaftsgenies des 19. Jahrhunderts: Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauss. Während der eine die halbe Welt bereist und dabei keinen Berg, keinen Fluss und keine Höhle unvermessen lässt, kommt der andere in seinem Leben nicht über das Planquadrat Braunschweig/Göttingen hinaus und dringt doch in Sphären vor, wo sich im Unendlichen die Parallelen berühren. Der Preusse Humboldt ist eine höchst komische Figur, eine «Mischung aus Don Quijote und Hindenburg». Wo immer er sich herumtreibt, in den Sumpfgebieten des Orinoko oder der zentralasiatischen Tundra, tritt er als Repräsentant der Weimarer Klassik auf (auch wenn Schiller seinen «Kartierungswahn» als Angriff auf die heilige Natur verhöhnte). Humboldts Maxime «Wann immer einen die Dinge erschreckten, sei es eine gute Idee, sie zu messen» bedeutet nichts anderes als Abtötung des inneren Chaos durch Unterwerfung der äusseren Welt. In Südamerika vermass er, was es zu vermessen gab, Berge, Täler, Flüsse, Temperatur, Sauerstoff, Strömungen, Magnetismus, Längen- und Breitengrade, Planeten. Sein so voluminöses wie unlesbares Werk «Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents» zeugt von seiner obsessiven Neugier. Gauss, Professor für Astronomie in Göttingen, ist ein antipathetischer Misanthrop und Stubenhocker aus Prinzip. Als Mathematiker ein Genie, das schon mit Anfang zwanzig sein Lebenswerk vorlegt, die Disquisitiones Arithmeticae, als Ehemann und Familienvater eine katastrophale Fehlbesetzung. Mit traumwandlerischer Sicherheit verknüpft Kehlmann Fiktion und Fakten.
Humboldt: Ein Hügel, von dem man nicht wisse, wie hoch er sei, beleidige die Vernunft und mache ihn unruhig. Ohne stetig die eigene Position zu bestimmen, könne ein Mensch sich nicht fortbewegen. Ein Rätsel, wie klein auch immer, lasse man nicht am Wegesrand.
Gauss kam auf den Zufall zu sprechen, den Feind allen Wissens, den er immer habe besiegen wollen. Aus der Nähe betrachtet, sehe man hinter jedem Ereignis die unendliche Feinheit des Kausalgewebes. Trete man weit genug zurück, offenbarten sich die grossen Muster. Freiheit und Zufall seien eine Frage der mittleren Entfernung, eine Sache des Abstands.
Humboldt: Das Ende des Weges sei in Sicht, die Vermessung der Welt fast abgeschlossen. Der Kosmos werde ein begriffener sein, alle Schwierigkeiten menschlichen Anfangs, wie Angst, Krieg und Ausbeutung, würden in die Vergangenheit sinken. Die Wissenschaft werde ein Zeitalter der Wohlfahrt herbeiführen, und wer könne wissen, ob sie nicht eines Tages das Problem des Todes lösen werde.
Gauss: Ein Mann allein am Schreibtisch. Ein Blatt Papier vor sich, allenfalls noch ein Fernrohr, vor dem Fenster der klare Himmel. Wenn dieser Mann nicht aufgebe, bevor er verstehe. Das sei vielleicht Wissenschaft.

Hans Boesch: Der Sog (1988), Der Bann (1996), Der Kreis (1998).
Verlag Nagel & Kimche, Zürich, ISBN 3-312-00134-X, ISBN 3-312-00213-3, ISBN 3-312-00236-2.

Triologie über das 20. Jahrhundert und den Geometer Simon.
Die Triologie entspricht den drei geometrischen Formen Quadrat, Dreieck und Kreis. „Der Sog“ (Simons Jugend) beruht auf dem Quadrat, der alten Hieroglyphe für Heim, „Der Bann“ (Simon 30-jährig) auf den Dreiecken des Geometers, dem Zerbrechen des Quadrates, und der letzte Band „Der Kreis“ (Simon pensioniert) nimmt das Motiv des Kreises auf, das magische Weltbild der (Urner) Bergler („Goldener Ring über Uri“), die (zerbrochene) Einheit zwischen Mensch und Natur am Vorabend der Jahrtausendwende.

«Der ist genau. Der wird Gemeindeschreiber oder Grundbuch­beamter oder, sicher, Geometer.» (Der Sog, 1988)

„‘Sie sind Ingenieur?’ – ‘Bewahre! Geometer. (…) Ich messe aus, das ist alles. (…) Ich betoniere das Land nicht zu (…). Ich pflastere das Land nicht zu, meine ich.’“
„‘Ich fasse an, vorsichtig, mit spitzen Fingern sozusagen, und lasse gleich wieder los.’ (…) Das Dreieck, mit dem er die Welt einfing, mit dem alle Geometer die Welt einfangen und sie gleich wieder loslassen (…). ‘Auf dem Papier und auf den Landkarten halte ich sie fest (…). Genaugenommen mache ich Dreiecke. Und mit der Spitze des Dreiecks fasse ich die Welt.’“ (Der Bann, 1996)

„Die messingenen Fernrohre der Geometer hingegen, die kleinen metalle­nen Wasserwagen, die Skalen wollte er sich gerne anse­hen. Er redete vom Faden der Spinne, irgendein starker Faden von irgendeinem Spinnennetz, der ins Fernrohr gespannt worden sei und nach dem man die Geleiseach­sen ausrichte; Höhe und Breite, Abweichungen. An ei­nem Spinnenfaden würde die ganze Albulabahn hängen, hatte er gelacht.“ (…) „Genauso arbeiteten die Ingenieure, habe Urgroßmutter gesagt. Nur sei da kein Sandhaufen, sondern ein Berg. Und da sei nicht irgendein Mann, der einen Sandhaufen zu umarmen versuche, um die Finger in den Sand zu stecken, sondern da sei ein Geometer, der über den ganzen Berg hin ein Netz von Linien lege. Visuren, nen­ne man die Linien. Von Pflock zu Pflock, von Bolzen zu Bolzen, über Fels und Wasser und Schnee hinweg sei das Netz von Linien gespannt, und jede Linie sei berechnet, wie lang, wie hoch, wie schräg, was weiss ich. Und diese Linien seien eigentlich nichts anderes als der Brustkorb des Geometers, der sich über den Berg beuge und von links und von rechts seine Zeigefinger in den Berg stosse; Zeigefinger, welche die beiden aufeinander zu wachsen­den Stollen im Berg vorzeichnen und denen die Mineure folgen würden.“ (Der Kreis, 1998).

W. Mock: Simplon
Tisch7-Verlag, Köln 2006, 360 Seiten, Fr. 42.90, ISBN 3-938476-09-5.

Der Simplon-Tunnel feierte im Mai 2006 sein hundertjähriges Jubiläum. Wolfgang Mock hat den Roman über die Hoffnungen geschrieben, die sich mit der Entstehung dieses Bauwerkes verbinden. Auf Schweizer und italienischer Seite der Alpen fiebern die Menschen der Eröffnung des Tunnels entgegen. Auch für den Ingenieur Alessandro Tello und seine junge Frau Gianna ist der Tunnelbau die Chance ihres Lebens. Wie die meisten ihrer Mitmenschen sehen sie im Fortschritt die Grundlage, auf der sich nicht nur ihr privates Glück, sondern zugleich allgemeiner Frieden und Wohlstand entwickeln wird. Das Buch erzählt die packende Geschichte der Menschen, die die Vision eines friedlich vereinten Europas teilten, in dem es mehr Arbeit und Wohlstand und weniger Grenzen gibt.
1898: „Auch für seine Ingenieure hatte Italien kaum Verwendung. (…) Doch dann war Alessandro mit der Nachricht vom Tunnel gekommen.“
„Ich bin Ingenieur. Wenn gebaut wird, arbeite ich ganz vorn im Tunnel. Bei den Sprengungen. Im Vortrieb.“
„Der Tunnel wird alles verändern.“ … „Der Tunnel, das ist die Zukunft. (…) es wird doch alles besser werden.“
„’Wir bauen an einer besseren Welt.’ Errico hatte die Worte oft gehört, wenn sein Vater abends vom Tunnel erzählte, und sich gefragt, was das sei, eine bessere Welt. Alles, was er sah, war ein schwarzes Loch.“
„’Und der Tunnel, was bringt der?’ ‚Der Tunnel ist wie eine Axt. Sie können ihrem Nachbarn damit den Schädel einschlagen oder ihm helfen, Bäume für sein Haus zu fällen. Es können friedliche Menschen hindurchfahren, aber auch Soldaten und Kanonen.  Und ganz sicher wird er einige ganz reich machen.’“
„’Aber vielleicht ist er ja auch völlig überflüssig.’ (…) ‚man sieht ja schon überall Automobile’ (…) ‚Vielleicht hat ja jeder bald so ein Fluggerät.’“
Vermessung: „Der Richtstollen über der Diveria wirkte wie eine leere Augenhöhle in der verschneiten Hangwand. Vor dem Observatorium versuchte sich ein Soldat in seinem Unterstand warm zu halten. (…) Die Soldaten bewachten die Ferngläser und Theodoliten, mit denen regelmässig die Tunnelachse vermessen wurde.“
Beim Streik: „’Sie (die Vertreter der Tunnelbaugesellschaft) müssen gleich auftauchen’, sagte ein Schweizer Ingenieur, einer der Vermessungsspezialisten.“

Marco Balzano: Ich bleibe hier
Diogenes Verlag, 2020, 288 Seiten, ISBN 3-257071213.

«1911 war der Plan für den Staudamm zum ersten Mal bekanntgemacht worden. Unternehmer der Montecatini-Gruppe wollten Reschen und Graun enteignen und die Strömung des Flusses zur Energiegewinnung nutzen. Italienische Fabrikanten und Politiker behaupteten, das Wasser sei das Gold Südtirols, und schickten immer häufiger Ingenieure, um die Täler zu besichtigen und die Flussläufe zu erkunden. Unsere Dörfer sollten in einem
Wassergrab verschwinden, die Bauernhöfe, die Kirche, die Geschäfte, die Felder und Weiden überflutet. Mit dem Staudamm würden wir die Höfe, die Tiere und die Arbeit verlieren. Nichts würde von uns übrig bleiben. Wir würden auswandern müssen, alles würde anders. Eine andere Arbeit, ein anderer Ort, andere Leute. Auch sterben würden wir fern vom Vinschgau und von Tirol. 1911 wurde der Plan nicht verwirklicht, da man den Boden als zu gefährlich betrachtete. Er hatte keine Festigkeit, bestand nur aus Dolomitgeröll. Doch nachdem der Faschismus an die Macht gekommen war, wussten wir alle, dass der Duce bald Industriezentren in Bozen und Meran ansiedeln würde – diese Städte würden ums Doppelte und Dreifache wachsen, scharenweise würden Italiener auf Arbeitssuche hier heraufkommen – und der Energiebedarf würde enorm steigen. …
»Mit einer Gruppe Bauern haben wir uns in den letzten Nächten hinter dem Dorf verschanzt«, erzählte Erich. »Auf einmal sind italienische Inspektoren gekommen. ›Hier wohnen wir seit Jahrhunderten, hier leben unsere Väter und unsere Kinder: Und hier liegen unsere Toten!‹, habe ich geschrien. Da hat einer dieser Feiglinge den Schlagstock gezückt, doch ein Ingenieur hat ihn gebremst und mir geantwortet, wir würden sicher zu einer Einigung kommen. ›Der Fortschritt ist mehr wert als eine Handvoll Häuser‹, hat er gesagt.«
»Draußen vor dem Dorf sind wieder Ingenieure und Bauarbeiter eingetroffen«, sagte er grußlos. »Die ganze Nacht sind Männer und Lastwagen gekommen. Sie haben Graun lang und breit vermessen, haben Bodenproben genommen, die Position des Staudamms markiert. Bald werden sie mit dem Bau beginnen. Ich weiß nicht, ob es im Dorf jemand bemerkt hat oder ob es allen egal ist, weil sie sowieso beschlossen haben wegzugehen.« …
»Die Faschisten und die Ingenieure der Montecatini wissen genau, dass Kriegsgefahr besteht, dass wir Männer bald eingezogen werden, dass hier niemand Italienisch kann und dass wir nur Bauern sind! Das ist der beste Augenblick, den muss man nutzen.« Von Meran her kamen drei Lastwagen. Eisengraue Lastwagen mit riesigen Rädern, die Staubwolken aufwirbelten. Den ganzen Tag fuhren sie hektisch zwischen Graun und Reschen hin und her. Untereinander sprachen diese Unbekannten italienisch, fuchtelten mit den Armen, deuteten mit dem Finger in die Ferne, als verfolgten sie die Schwalben.»

Max Eyth
Hinter Pflug und Schraubstock (projekt-gutenberg.org)
Max Eyth: Die Brücke über die Ennobucht (projekt-gutenberg.org)

«(…) ein russischer Geometer (…), der im Be­griffe stand, zum Zwecke künftiger Bewässerung, (…) die achttausend Hektar einer verwilderten Steppenwirtschaft kunstgerecht zu nivellieren, (…).» (Hinter Pflug und Schraubstock – Skiz­zen aus dem Tas­chen­buch eines Inge­nieurs, 1899)
Um 1880 waren ca. 2000 Dampfpflüge im Einsatz, die Hälfte in England, ein Viertel in Ägypten, weitere in den britischen Kolonien, aber auch in Deutschland, Frankreich, Österreich-Ungarn und Russland. Max Eyth (1836-1906) arbeitete 1861 bis 1882 beim bedeutendsten Dampfpflughersteller, John Fowler in England, und bereiste mit «seinen» Dampfpflügen alle Kontinente. In Deutschland gründete er 1885 die Deutsche Landwirtschaftsgesellschaft. Er verfasste Fachbücher, autobiographische Berichte, Gedichte und Erzählungen aus der Welt der Technik. Ab 1871 schrieb er sein „Wanderbuch eines Ingenieurs. In Briefen“. Darin hält Eyth zur zitierten Textstelle fest: „Timaschwo, den 3. Oktober 1876. Timaschwo ist kein Platz, der ein sonderlich buntes Reisebild zu liefern imstande wäre. (…) Meine drei Dampfpflüge sind in regelmässiger Tätigkeit. Die Strohbrennerei lässt nichts mehr zu wünschen übrig. Die einsamen stillen Felder haben bereits ein ganz anderes, wirklich herzerhebendes Aussehen. Sechs Maschinen in voller Tätigkeit, jede mit einem Kometenschweif von Strohrauch hinter sich, sehen ermutigend aus.“
Sein Werk wurde „jedem Civil-Ingenieur als höchst lehrreiche Lectüre empfohlen“; „Dünkelberg in seinem ‹Cultur-Ingenieur› giebt einen ausführlichen Bericht über dasselbe (…), und ‹möchte veranlassen, dass jeder Freund der Culturtechnik das Werk eingehend studiere’“.

«(…), tief unter uns in einem dämmrigen Kreis die schaum­bedeckte See, um uns bestimmt und klar die Schienen, die Schwellen, das Geländer, vor uns plötzlich scharf abgeschnit­ten, das Ende der Brücke, das ins leere Nichts hinaus­ragte. (…). Dann klammerte ich mich wieder mit beiden Händen ans Geländer und sah in das dunstige Blau hinaus, wo noch vor zwei Stunden die riesigen, tunnelartigen Gitterbalken begon­nen hatten. Sie waren verschwunden, spurlos weggeblasen.» (Die Brücke über die Ennobucht, 1899)
Der Einsturz dieser Eisenbahnbrücke ereig­nete sich 1879 am Firth of Tay in Schottland. Die über drei Kilometer lange Eisenbahnbrücke galt als technisches Wunder­werk; mit dem Einsturz der Brücke wurde der damalige Fortschrittsoptimismus nachhaltig gestört. Eyth berichtet über Begegnun­gen und Diskussionen mit dem Brückenbauingenieur; aus dessen Briefen an Eyth erfahren wir Details und Probleme aus dem Bauvorgang und der Brückenbaudis­kussion jener Zeit.

Hansjörg Schertenleib: Der Antiquar
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1991, ISBN 3-462-02132-X.

«Arthur Dold sass den ganzen Tag über Karten und Atlanten (…).
(…) (er) war in die stille und geord­nete Welt der Karten zurückgekehrt. (…)
Er liebte es, im Lichte von Tischlampe und Globus über Land­karten zu sitzen und mit dem Zeigefinger neue Routen abzufah­ren. Hatte er sich in einer Hochebene verirrt, brauchte er bloss den Blick zu heben, um in die Wirklichkeit zurückzu­fin­den. (…) Seine Trauer bewältigte er in den eigenen vier Wänden, über Landkar­ten sitzend, da ihn die Be­schäftigung mit den vermessenen Landschaften ra­tional denken liess und davon abhielt, sich in seiner Trauer zu verlieren.» (…)
«Hatte er in der Tat ein schlechtes Gedächtnis? Ging er zu systematisch vor, weil er überzeugt war, dass sich auch für die Vergangenheit eine Karte anlegen liess, ein Plan, der nach logischen Gesichtspunkten aufgebaut war?» (…)
«(Er machte) sich nichts aus Gärten. Ging er seinem Vater zur Hand, tat er dies mit Widerwillen, weil er die Pflanzen, die Natur überhaupt, nur als Kulisse sah, als Gegenstand, den es zu kartogra­phieren galt. Mit einem Grundrissplan des Gartens der ‹Italica›, sorgfältig beschriftet und kolo­riert, hatte er seinem Vater seiner­zeit die grösste Freude gemacht. Sein Vater hatte den Bogen, 90 Zentimeter im Quadrat, rahmen lassen und ins Wohn­zimmer gehängt, um ihn jedem Besucher zu zeigen und zu erläutern.» (…)
«Ach ja: Der Geometer hatte die Waldung vor Ein­bruch der Dämmerung verlassen und sich dann auf die Klippen gelegt, um die Nacht am Wasser zu verbrin­gen. In der Früh sass er im Wind, der landwärts blies, und wusste mit einem Mal, dass er nichts besass, mit dem er gegen die Welt hätte antreten können. So nahm er Stift, Papier und ging daran, sie neu zu zeichnen, seine Welt.»

Bruce Chatwin: Traumpfade
The Songlines, London 1987. Hanser Verlag, München 1990, 394 Seiten, ISBN 3‑446-15526-0.

Mit einer geplanten Eisenbahnlinie in Australien prallen zwei Gesellschaftssys­teme aufeinander; die Konflikte und Tumulte sind vorprogram­miert, Tumult, «der jedesmal ausbrach, wenn eine Berg­bau­gesellschaft ihren Maschinenpark auf Aborigine-Land ab­stellte.» Der Chefin­genieur der Eisenbahngesellschaft hat daher ver­sprochen, «keine ein­zige ihrer heiligen Stätten zu zerstören, und ihre Vertreter gebeten, ihm eine Karte (der heiligen Stätten) zu beschaffen. (…) Die Eisenbahnvermesser hatten es eilig, speziell diese Teil­strecke abzustecken.»
Der Ich-Erzähler begegnet Arkady, der damit beschäftigt ist, die Karte von den heiligen Stätten der Aborigines anzulegen. Mit ihm nähern wir uns der Vorstellungswelt der Songlines, der Traumpfade an. Songlines, Traumpfade ziehen sich über ganz Australien; «jeder totemis­tische Ahne habe auf seiner Reise durch das Land eine Spur von Wörtern und Noten neben seinen Fussspuren ausgestreut.» Das Land «entstand» in der «Traum­zeit», indem die Ahnen es sangen. Jeder Vorfahre hat seine bestimmten Lieder, seine bestimmten Linen, die Songlines.
Der Aborigine folgt «den Fussspuren seines Ahnen. Er sang die Strophen seines Ahnen, ohne ein Wort oder eine Note zu ändern – und erschuf so die Schöpfung neu. (…) Ein Lied (…) war gleich­zeitig Karte und Kompass. Wenn man das Lied kannte, konnte man immer seinen Weg durch das Land finden. (…) Aborigines (…) konnten sich ein Territorium nicht als ein von Grenzen umschlos­senes Stück Land vorstellen, sondern sahen es eher als ein ver­schachteltes Netz von ‹Linien› oder ‹Durch-Gängen›.»
Der Austausch zwischen verschiedenen Klans erfolgt, indem sie «untereinander Lieder, Tänze, Söhne und Töchter austaus­chen und sich gegenseitig ‹Wegerechte› garantierten. (…) Dies bedeutete, dass der Mensche seine Lied-Karte vergrösserte. Er erweiterte seine Möglichkeiten und erforschte die Welt mit Hilfe des Lieds.» – » Ein Tschuringa (…) ist ein ovaler Gegenstand aus Stein oder Mulgaholz. Er ist sowohl Partitur als auch mythologis­cher Leit­faden für die Reisen des Ahnen. Er ist der jetzige Leib des Ahnen (…) seine Seele (…) seine Besitzurkunde für das Land, sein Pass und seine Fahrkarte ‹zurück ins Innere›. (…) Wenn man aber seinen Tschuringa zerbrach oder verlor, war man ausserhalb mensch­lischer Grenzen und hatte alle Hoffnung auf ‹Rückkehr› verloren.» Orte entlang der Songlines haben totemis­tische Bedeutung, sind «heilige Stätte»: «Es war nicht leicht, einen Vermesser davon zu überzeugen, dass ein Haufen Flusssteine die Eier einer Regenbogen­schlange oder ein rötlicher Sandsteinbrocken die Leber eines mit dem Speer erlegten Känguruhs war.»
Songs, Sprache, Benennung und Besitz sind aufs engste miteinander verbunden: «Warum hatte es zweihundert Sprachen in Australien gegeben (…)? (…) Indem er alle ‹Dinge› in seinem Territorium benan­nte, konnte er immer damit rechnen, zu überleben. (…) Der Mensch ‹macht› sein Territorium, indem er die ‹Dinge› darin benen­nt.» – «(…) ein Delphin, wenn er ‹trianguliert›, um seine Position zu bestimmen, verhält sich ähnlich wie wir, wenn wir die ‹Dinge›, denen wir in un­serem täglichen Leben begegnen, benen­nen und ver­gleichen und auf diese Weise un­seren Platz in der Welt festlegen.»
Chatwin verfolgt nun diese Gedanken durch die Menschheitsge­s­chich­te, zurück bis zur Evolution: Der Homo sapiens war Nomade in kargen Land­schaften. Chatwin findet vergleichbare Mytholo­gien und Philosophien, etwa: «Du kannst nicht auf dem Pfad gehen, bevor du nicht der Pfad selbst geworden bist. Buddha.» – «Das Leben ist eine Brücke. Gehe über sie hinweg, aber baue kein Haus darauf. Indisches Sprich­wort.»
«Die meisten Nomaden behaupten, ihren Migrationsweg (arabisch Il-Rah, ‹Der Weg›) zu ‹besitzen›, aber in der Praxis melden sie nur den Anspruch auf periodi­sche Weiderrechte an. Raum und Zeit ver­schmelzen so miteinander: ein Monat und eine Wegstrecke sind ein und dasselbe.» ‑ «Einer allgemeinen Regel der Biolo­gie zufolge sind die migratoris­chen Arten weniger ‹agressiv› als die sesshaf­ten.»
Chatwin kommt zum Schluss: «Ein Song brachte demnach Frieden. Doch ich spürte, dass die Songlines nicht unbedingt ein australisches, sondern ein univer­sales Phänomen waren: ein Mittel, mit dessen Hilfe der Mensch sein Territorium ab­steck­te und sein gesellschaft­liches Leben organi­sierte.»

Nuruddin Farah: Maps
Ammann Verlag, Zürich 1992, 380 Seiten, ISBN 3-250-10165-6.

Askar, ein Somali, wächst im Ogaden auf, dem von Äthiopien annek­tierten kargen Hochland. Die Mutter starb bei seiner Geburt, seinen Vater, einen Freiheits­kämpfer, sah er nie. Eine enge Ver­bindung entwickelt Askar zu Misra, von der er aufgezogen wird und die selbst keine Somali ist. Später kommt Askar zu Ver­wandten nach Mogadiscio. Misra wird als Fremde verfolgt.
Zwei Gegenstände prägen und symbolisieren Askars Leben: Landkarten und Spiegel. An die Wände seines Zimmers hat er «Spiegel und Land­karten gehängt»: «Er war wieder bei seinen unaufgeschlagenen Büchern, seinen un­gelesenen Karten an den Zim­merwänden – zu Hause. (…) Konzentriert betrachtete er die Karte, die sich orig­nial­getreu im Spiegel vor ihm abbil­dete.»
Im Befreiungskrieg «erwiesen sich die Landkarten, die mir der Onkel geschenkt hatte, als sehr nützlich. Die meisten Frauen waren Analphabetinnen und hatten noch nie eine Landkarte gesehen oder besessen. Unsere Hütte wurde so etwas wie ein Befehlsstand. Wir breiteten die Karten auf den Tischen aus (…).»
Askar «kartographiert» sein Verhältnis zu Misra: «(…) die Land­kar­ten, die mir die Distanz im Kilometer­massstab angeben -hängen an den Wänden, um mir zu zei­gen, wie gross die Entfernung zwischen dir und mir ist.» – «(…) wie er auf einer geistigen Landkarte die unüberbrückbare Entfer­nung zwischen Misra und sich ab­steckte.» – «Misra stand wieder vor ihm. (…) sie stand da, wirklich wie die Grenze (…).»
Askars Leben wird selbst zur «karto­graphischen» Erfahrung: «Doch auf dem Fell (einer Ziege, in das Askar gehüllt ist) waren wie auf einer Karte alle Wege verzeich­net, die ihn zu seiner Vergangen­heit zurückführ­ten, eine Land­karte, die ihm seinen Ursprung zeigte, eine Land­karte, mit irdis­chen Pfaden, Flüssen, die steigen und fallen, eine Landkarte, deren Massstab einer Logik folgte, die nur er ver­stand.» Aber auch die Landschaft und der Kosmos werden zur Karte: «Es regnete sehr viel, und der Regen ebnete die Landschaft ein, verwischte die lesbaren Karten, die erkennbaren Landmarken und Meilensteine.» – «(…) ein Vogel, der in seinem Innern alle Erfahrungen des Kosmos zusammengefaltet wie eine Landkarte trug.»

Peter Carey: Oscar und Lucinda
London 1988. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1991.

1866 in Australien. gläserne Kathedrale wird quer durchs Land transportiert.
Lucindas Mutter schreibt: «Kurz gesagt: Ich werde verkaufen. Ich werde meinen Anwalt Ahearn, einen sehr protestantisch orientierten Anglikaner, kommen lassen, damit er dafür sorgt, dass das Land vermessen wird. (…) Sobald das Land vermessen ist, werde ich – Gott gebe mir die Kraft, es meiner Tochter zu sagen – verkaufen.»
«Sie stellte fest, dass Landvermesser mit Hacken und Äxten dabei waren, eine Sichtlinie durch ihren tauglänzenden Obstgarten zu schlagen. Süsses, weisses, gesplittertes Holz leuchtete im Sonnen­licht. Der Klang der Äxte verstummte. Sie starrten sie an: ein Mädchen in smaragdgrünen Bloomers, das einen Koffer durch das nasse, wintergraue Gras schlep­pte. Sie lächelten, denn sie hatten keine Ahnung, wie ihr Herz raste oder welchen Zorn sie empfand – all die gestockte Liebe, die Wut auf den Tod, sieh dir nur die Disteln auf unserer Weide an! -, und das alles war gegen die da in ihren blauen Hemden und leuchtend weissen Hosen aus dickem Baum­wollzwirn gerich­tet. Sie hasste sie. (…) Und so, mit keuchender Eile, erfuhr Lucinda vom Verrat ihrer Mutter. Sie stellte ihren Koffer, den sie bis dahin festgehalten hatte, sorgsam im langen, nassen Gras ab. Sie betrachtete den Parzellierungsplan und ver­suchte ihn zu verstehen.»
Wette mit Oscar: «Sie würde dafür sorgen, dass ihm nichts zu­stiess. Sie würde den erfahrendsten Buschläufer, einen Forscher, einen Landvermesser in ihre Dienste nehmen.»
Mr. Jeffris, diplomierter Landvermesser, hatte sich «sein ganzes Leben als erwach­sener Mann (…) auf den Tag vorbereitet, da er unkartographiertes Land erforschen, ein Expeditionstagebuch führen und eine Karte veröffentlichen würde. (…) Hume, Hovell, Burke, Eyre -sie alle hatten ihre Karten schlecht gezeichnet. Sowohl für Siedler als auch für Forscher war dieses Material unbrauchbar, aber ihre Autoren galten als Helden, während Mr. Jeffris Buchhalter in Sydney war. (…) Er hatte fünf Jahre seines Lebens als arschkriechender, speichelleckender Lehrling, Assistent und Mann für alle Drecksarbeiten bei dem unfähigen, asthmatischen Mr. Cruikshank verbracht, um sich Kenntnisse in jener Wis­senschaft anzueignen, die Mitchell über alle anderen stellte: die Vermes­sungstechnik.»
Mr. Jeffris «hatte vor, diese Reise wie ein Trigonometer zu machen, wie jemand, der immer genau wusste, wo er sich gerade befand, und er würde sich (…) nicht blindlings einen Weg durch den Busch schlagen wie ein Idiot, wie ein arschgesich­tiger Ire. Sie würden Äxte mitnehmen, deren Klingen stets rasiermes­serscharf zu sein hatten, denn nichts ist einem Landvermesser mehr zuwider als ein Baum, der ihm den Blick auf seinen Bezugspunkt versperrt.»
«Die Expedition würde mühselig sein und höchstwahrscheinlich Menschenleben kos­ten. Das wusste Mr. Jeffris jetzt. Er spürte die Axt in seiner Hand, er sah den durch den Busch geschlagenen Weg und die gezackte Kette der Berge, die seinen Theodoliten ihre exakte Höhe preisgeben mussten.»
«Wenn er (Ahearn) der Besitzer gewesen wäre, hätte er im Obstgar­ten Vermessungspflöcke setzen lassen, bis er aussah wie ein Crib­bagebrett.»
«Die einzigen Farbflecken auf der Halbin­sel waren Borrodailes leuchtend roten Vermessungspfähle, die so regelmässig wie die Kegel auf einem Cribbagebrett in die Erde geschlagen waren.»

K. Shamsie: Kartographie
Berlin Verlag, Berlin 2004, 415 Seiten, ISBN 3-8270-0521-3.

„Der Globus dreht sich. Meine Finger gleiten über Gebirgszüge; über dem Arabischen Meer befinden sich atomsphärische Störungen. Pakistan ist in zwei Hälften gespalten, aber ungeteilt. Diese Welt ist veraltet. (…) Von dort nach hier ist es überhaupt keine Entfernung, wenn man die Weltkarte betrachtet. Aber bei Entfernungen geht es nicht um Meilen oder Kilometer, es geht um Angst.“ Kamila Shamsie wurde 1973 in Pakistan geboren und lebt heute in London und Karatschi. Ihr dritter Roman „Kartographie“ über die Freundschaft zweier junger Menschen Raheen und Karim spielt vor dem Hintergrund ethnischer und politischer Unruhen im Pakistan der letzten drei Jahrzehnte. Die Jugendfreunde verlassen Pakistan und treffen sich Jahre später in Karatschi. Das Motiv der Landkarten zieht sich durch den Roman. Raheen: „Du kannst sowieso kein Landkartenmacher werden. (…) Weil alle Landkarten schon gemacht sind, oder etwa nicht? Was willst du tun? Einen neuen Kontinent entdecken und vermessen?“ Karim: „Ich werde eine Karte im Internet machen. (…) du hörst Geschichten von Leuten (…), du kriegst das Bild einer Strasse (…), du siehst ein Gemälde (…), das wird eine erstaunliche Sache werden.“

Henning Mankell: Tiefe
Zsolnay Verlag, München 2005, Seiten,  21,50, ISBN 3-552-05343-3.

Im Dezember 2001 hat die schwedische Marine die Verantwortung für die Seevermessung in schwedischen Fahrwassern zivilen Organisationen übertragen. Im ersten Weltkrieg spielte die Vermessung von Tiefen und Untiefen in den Stockholmer Schären eine bedeutende militärische Rolle. Lars Tobiasson-Svartman ist Marineoffizier und Seevermessungsingenieur. Er hat den Auftrag Fahrwasser auszuloten. Aber auch „in mir selbst“ muss er „ein sicheres Fahrwasser kartographieren“. Als sein Auftrag zu Ende geht, ersinnt er fiktive Aufträge. „Ich soll messen, wie weit man die verschiedenen Lichter der Leuchttürme bei wechselndem Wetter sehen kann.“ Wie immer bei Mankell (z.B. Kriminalromane „Wallander“) entwickelt die Geschichte einen unwiderstehlichen und unheimlichen Sog. Ein Mann zwischen zwei Welten; ein Mensch, der über Leichen geht, um ans Ziel seiner Wünsche zu gelangen. Ein Roman über die finsteren Abgründe der Seele und das Böse im Menschen, die Vermessung als Metapher.

C. Clark: Der Vermesser
Hoffmann & Campe, 2005, 414 Seiten, ISBN 3-455-00864-X.

London 1855. Unter der Stadt ein gewaltiges Labyrinth von alten Tunneln, das Menschen aller Couleur anzieht. Die einen suchen nach Dingen, die sich zu Geld machen lassen, andere sind auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit. Bis ein grausiger Mord geschieht, der alle Tunnelmänner gleichermassen erschüttert. Der Vermesser William May sucht häufig Zuflucht in den modrigen Gewölben unter der Stadt. Die Erneuerung des uralten Abwassersystems, mit der man ihn beauftragt, ist ihm ein willkommener Vorwand, immer wieder in die Tunnelwelt einzutauchen und dort ungestört sein Geheimnis zu pflegen. Mit den armen Schluckern der Stadt, die aus dem, was sie in den Tunneln finden, ihren Lebensunterhalt bestreiten, hat er nichts zu tun. So weiss er auch nicht, dass die so genannten Kanaljäger alles andere als erfreut sind über die bevorstehende Sanierung von Londons Untergrund, fürchten sie doch um ihre Existenz. Als in den unterirdischen Gängen ein Mord geschieht, kommt William May unter Verdacht.

K. Alder: Das Mass der Welt. Die Suche nach dem Urmeter
Bertelsmann, München 2003, 544 Seiten, € 24.90, ISBN 3-570-00545-3.

Im Jahre 1792, mitten im Chaos der Französischen Revolution, sind zwei Astronomen akribisch dabei, eine ebenso weit reichende Revolution, nicht nur in der Geometrie, einzuläuten. Sie wollen das bislang herrschende Gewirr von unterschiedlichen Massen und Gewichten durch ein demokratisches, metrisches System ersetzen. Das so genannte Meter soll von der Krümmung der Erde abgeleitet, exakt berechnet und zum Mass aller Dinge werden. Dieses ehrgeizige Vorhaben gerät zum gefährlichen Abenteuer. Beim Vermessen des französischen Meridianbogens schleicht sich zwischen zehntausenden präziser Daten ein kleiner, aber verhängnisvoller Fehler ein. Der zunächst verschwiegene Rechenfehler gerät einem der Wissenschaftler zum persönlichen Schicksal. Doch am Ende wurde gerade durch diesen Fehler die Wissenschaft revolutioniert. Die Welt erhielt ein neues Mass, das heute 95 Prozent aller Menschen nutzen und die Welt zusammenwachsen liess. Ken Alder erzählt von menschlicher Erfindungsgabe und der sinnlichen Leidenschaft für Zahlen.

N. Crane: Der Weltbeschreiber. Gelehrter, Ketzer, Kosmograph – wie die Karten des Gerhard Mercator die Welt veränderten
Droemer Verlag, München 2005, 384 Seiten, € 22.90, ISBN 3-426-27224-5.

Reformation, Bauernkrieg, Magellans Weltumseglung – in bewegter Zeit schuf der Kartograph Gerhard Mercator eine Darstellung von der Welt, die bis heute sowohl in der Seefahrt als auch bei der NASA verwendet wird. Als Martin Luther der Reformation den entscheidenden Impuls gab, war Mercator fünf Jahre alt, er war zehn, als die Überlebenden der von Magellan begonnenen ersten Weltumseglung nach Sevilla zurückkehrten. 1544 wurde er von der Inquisition der «Lutherei» beschuldigt und als Ketzer in Kerkerhaft genommen, zehn Jahre später rief ihn Kaiser Karl V. nach Brüssel. Nicholas Crane erzählt vom Leben dieses Mannes, der durch Hunger, Not und Elend ging, der verfolgt wurde und schliesslich doch zu höchstem Ruhm gelangte. Geboren 1512 in Flandern als Sohn eines Schusters, revolutionierte Gerhard Mercator die Kartographie. Als er 1594 in Duisburg starb, galt er als der «Prinz der modernen Geographen».

J. Vermeulen: Zwischen Gott und der See. Roman über das Leben und Werk des Gerhard Mercator
Diogenes Verlag, Zürich 2005, 687 Seiten, ISBN 3-257-06495-0.

Über Mercator (1512–1594), «Prinz der Weltbeschreiber», sind in den letzten Jahren mehrere Bücher erschienen. Vermeulen verbindet Fakten und Fiktion. Er lässt den Leser das Lebensdrama eines Mannes miterleben, der gegen Intrigen und Ignoranz kämpfen musste, der sich privat aufrieb und erst in hohem Alter die Früchte seines Schaffens ernten durfte. Seine Karten haben die Welt verändert und die Meere für die Seefahrt sicherer gemacht in einer Zeit des Aufbruchs, der Entdeckungsreisen und der Inquisition.

K. Brinkbäumer, C. Höges: Die letzte Reise. Der Fall Christoph Columbus
Deutsche Verlags-Anstalt, Spiegel-Buchverlag, München 2004, 480 Seiten, € 19.90, ISBN 3-421-05823-7.

Die Geschichte des Christoph Columbus ist die Geschichte eines Triumphs und seine Tragödie. Sie ist grosses Abenteuer und ein Wissenschaftskrimi. 500 Jahre nach seinem Tod wird der Entdecker neu entdeckt: Ein internationales Team von Forschern und Tauchern untersucht ein geheimnisvolles Wrack vor der Küste Panamas – die «Vizcaina» des Christoph Columbus? Und Historiker fahnden in alten Archiven nach seinen Spuren. Was wollte Columbus, als er 1492 aufbrach in Richtung Westen? Warum finanzierte ein Sklavenhändler die Entdeckung der Neuen Welt? Und was geschah wirklich auf seiner vierten, seiner letzten Reise, als Columbus Meuterei, Stürme und Verrat überstand, als er seine vier Schiffe verlor und wahnsinnig und beinahe blind auf Jamaika strandete?

Ute Schneider: Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute
Primus-Verlag, Darmstadt 2004, 144 Seiten, € 39.90, ISBN 3-89678-243-6.

Wir gehen tagtäglich mit Karten um – dabei nehmen wir die sachliche Richtigkeit der Karten als gegeben. Karten sind jedoch kein objektives, wertefreies Abbild der Welt, sondern immer auch Ausdruck eines bestimmten Weltbilds. Den unmittelbaren Zusammenhang von Weltsichten und ihrer kartographischen Repräsentation veranschaulichen mittelalterliche Karten auf eindrückliche Weise. Sie organisieren die Welt nicht nach uns vertrauten topographischen, sondern nach heilsgeschichtlichen Kriterien. In Klöstern gezeichnet, illustrieren sie die biblische Geschichte der Menschheit mit ihren relevanten Orten. Sie dienten kaum der Orientierung im geographischen als vielmehr im heilsgeschichtlichen Raum und seiner Zeit. Verschiedenste Repräsentationen der Welt in Gestalt von Karten und Globen sind der eindrucksvolle Ausgangspunkt dieses Buches, an den sich eine Reihe von Fragen anschliessen: Welchen Zusammenhang gibt es zwischen dem formalen und funktionalen Wandel von Karten im Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit und Veränderungen im Wissen über die Welt? Wie kommt es von den heilsgeschichtlichen Mappae mundi des Mittelalters zu den topographischen Karten der Neuzeit? Wie entsteht die uns vertraute Form der Repräsentation der Welt auf Karten? Das Buch eröffnet anhand vieler eindrucksvoller grossformatiger Karten einen spannenden Zugang zur Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute.

H.-D. Haustein: Quellen der Messkunst. Zu Mass und Zahl, Geld und Gewicht
Verlag de Gruyter, Berlin 2004, 383 Seiten, Fr. 56.–, ISBN 3-11-017833-8.

Mass und Messen sind Existenzmittel und ständige Begleiter des modernen Menschen. Sie sind ihm seit Jahrtausenden vertraut und fremd zugleich. Die Weltgeschichte des sozialen, technischen und wissenschaftlichen Messens spiegelt die Erfolge und Niederlagen menschlicher Erfindungskraft, Macht, Vermessenheit und Ohnmacht des Homo mensurans wider. So selbstverständlich Messungen im Alltag geworden sind, so wenig wird meist ihr Sinn oder Unsinn hinterfragt. Die hier vorliegenden Quellen aus fünf Jahrtausenden lassen erleben, wie unsere Vorfahren versucht haben, das Paradoxon einer messbaren und zugleich masslosen Welt geistig zu bewältigen oder das Geheimnis des rechten Masses zu finden. Neben deutschsprachigen, angelsächsischen und romanischen werden babylonische, ägyptische, indische, chinesische, griechische und römische sowie arabische und jüdische Quellen zitiert. Das Buch wendet sich an alle Leser, die sich beruflich oder persönlich mit Mass und Zahl in der einen oder anderen Form befassen oder sich für das Messen interessieren.

Hugo Loetscher: Abwässer – ein Gutachten
Diogenes Verlag, Zürich 1989, 160 Seiten, Fr. 12.90, ISBN 978-3-257-21729-2.

«Meine Herren, als der Umsturz stattfand, war ich unten bei meinen Kanälen. Freitag ist der einzige Tag, den ich als Inspek­tor der Abwässer seit meiner Amtsüber­nahme nicht im Büro verbringe; son­dern an dem Tag steige ich zu meinem wöchentlichen Kontrollgang hinun­ter. (…) Für mich gibt es keine andere Möglichkeit, nützlich zu sein, ausser die Abwäs­ser abzuleiten und die Kanalisa­tionen zu inspizie­ren. (…) Welche Zukunft auch immer beginnt, welche Ordnung auch ge­schaffen wird – Abwässer werden die lich­teste Zukunft und das gerechteste Morgen hervorbringen, und es braucht jemand, der diese Abwässer ableitet und deren Kanäle inspiziert.»
Nach dem «Umsturz» verfasst der Inspektor der Abwässer ein Gutachten über die Abwässer, damit die «neuen Herren» sich ein Bild über die Anfor­derungen an den neuen Inspektor der Abwässer machen können. Mit ihm lernen wir die «Unter­welt» kennen, die Kanäle, Regenbeck­en, Kläran­lagen, das «Taschen­buch der Stad­tentwässerung», aber auch die Auseinandersetzun­gen zwischen einem Inspektor der Abwäs­ser und einem Frisch­wasserinspektor und schliesslich die Lebens­geschichte des Inspektors der Abwässer, seine Höhepunkte, seine Einsam­kei­ten, in denen er sich allein auf sein Heer von Bakterien in der Kläran­lage verlassen kann.

Christoph Keller: Afrika fluten
Rotpunktverlag, Zürich 2023, 248 Seiten, Fr. 28.-, ISBN 978-3-03973-000-1.

Lovis macht sich auf den Weg, auf eine Reise rund ums westliche Mittelmeer: Marseille, Gibraltar, Sizilien. Und, auf den Spuren von Bruno Siegwart, zurück in die dreißiger Jahre. Siegwart, ein unverdrossener Schweizer Ingenieur, hat sich mit Haut und Haar und Rechenschieber dem gigantischen Projekt Atlantropa verschrieben. Der Erfinder dieser Utopie, der deutsche Architekt Herman Sörgel, wollte das Mittelmeer absenken, um Strom zu gewinnen. Siegwart lieferte ihm die Berechnungen, unaufgefordert, aus reiner Begeisterung – und die Idee, die Flüsse Afrikas zu stauen, um noch mehr Elektrizität zu produzieren, für Europa. Als Lovis ihn aufstöbert, ihn mit Fragen bedrängt, versteckt sich Siegwart hinter seinem Glauben an die Technik. Diesen Glauben kennt Lovis vom eigenen Vater, auch er war Ingenieur und Lovis oft mit ihm unterwegs zwischen Betonmischern, Tiefladern, Baukränen und hohen Staumauern. Christoph Keller beschäftigt sich seit Jahren journalistisch und literarisch mit dem Mittelmeer und mit kolonialen Praktiken der Schweiz. Deshalb stach ihm das gut tausendseitige Manuskript von Bruno Siegwart, das er im Deutschen Museum in München aufstöberte, sofort ins Auge. Doch der Roman, den er aus diesem Fund destilliert hat, erzählt weit mehr als die Geschichte einer größenwahnsinnigen Utopie.

Anita Siegfried: Steigende Pegel
bilgerverlag, Zürich 2016, ISBN: 978-3-03762-054-0

«Steigende Pegel» erzählt die unglaubliche Geschichte des schiffbaren transalpinen Kanals über die Alpen von Genua nach Basel, eines der kühnsten Projekte aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts. «Wasser wird ein- und ausströmen, still, schnell und unsichtbar werden die schlanken Frachter im Stundentakt vom Wasserpegel in den lichtlosen Röhren den schroffen Bergflanken entlang angehoben und jenseits des Splügen wieder ins Tal hinab gesenkt werden. Schleusentore werden sich unter dem Wasserdruck lautlos öffnen und wieder schliessen. Die Leute im Val Chiavenna werden sich noch wundern, wie es hier in ein paar Jahren aussehen wird.» Pietro Caminadas Vision im Sommer 1913 am Ufer des Liro ist kein Hirngespinst. Als er 1906 aus Brasilien nach Europa zurückkehrte, hatte er das fertige Manuskript „Canaux de Montagne“ im Gepäck mit den detaillierten Beschreibungen einer epochemachende Erfindung, die alles auf den Kopf stellen würde, was bis anhin punkto Transportwesen ausgedacht worden war: die Alpenquerung mit Schiffen, der Transalpine Kanal von Genua nach Basel.

Johann Wolfang von Goethe: Die Wahlverwandt­schaften (1809)
Frankfurt am Main 1972.

«Das erste was wir tun sollten, sagte der Hauptmann, wäre, dass ich die Gegend mit der Magnetnadel aufnähme. […] Die Tage waren günstig; die Abende und die frühsten Morgen brachte er mit Aufzeichnen und Schraffieren zu. Schnell war auch alles laviert und illuminiert, und Eduard sah seine Besitzungen auf das deutlichste, aus dem Papier, wie eine schöne Schöp­fung hervorgewachsen. […] Der Hauptmann hatte alles wohl überlegt und gemessen und brachte jenen Dorfweg, jene Mauer am Bache her, jene Ausfüllung wieder zur Sprache. Ich gewinne, sagte er, indem ich einen bequemen Weg zur Anhöhe hinaufführe, gerade soviel Steine, als ich zu jener Mauer bedarf. […] Grosse Schollen hatten sich vom Dämme losgetrennt, man sah mehrere Menschen ins Wasser stürzen. Das Erdreich hatte nachgegeben unter dem Drängen und Treten der immer zunehmenden Menge.»

Storm Theodor: Der Schimmelreiter (1888)
Stuttgart 1969.

«Nun ist aber zunächst ein Feldmesser zu berufen, der die Linie des neuen Deiches auf dem Vorland absteckt! (…)» (…) «So wurde denn über die beiden Feldmesser verhandelt und endlich beschlos­sen, ihnen gemeinschaftlich das Werk zu übertra­gen.» (24)

Stifter Adalbert: Kalkstein. In Bunte Steine (1853)
Bunte Steine (projekt-gutenberg.org)

«Ihr wisst alle, sagte er, dass ich mich schon seit vielen Jahren mit der Messkunst beschäftige, dass ich in Staatsdiensten bin, und dass ich mit Aufträgen dieser Art von der Regierung bald hierhin, bald dorthin gesendet wurde. (…) Mein Beruf bringt es mit sich, dass ich mit vielen Menschen verkehre und sie mir merke, und da habe ich denn im Merken eine solche Fertigkeit erlangt, dass ich auch Menschen erkenne, die ich vor Jahren und auch nur ein einziges Mal gesehen habe. (…) Wenn man ein Land vermisst, wenn man viele Jahre lang Länder und ihre Gestalten auf Papier zeichnet, so nimmt man auch Anteil an der Beschaffenheit der Länder und gewinnt sie lieb. (…) Da ging es nun an ein Hämmern, Messen, Pflöckeschlagen, Kettenziehen, an ein Aufstellen der Messtische, an ein Absehen durch die Gläser, an ein Bestimmen der Linien, Winkelmessen, Rechnen und dergleichen. Wir rückten durch die Steinhügel vor, und unsere Zeichen verbreiteten sich auf dem Kalkgebiete. Da es eine Auszeichnung war, diesen schwierigen Erdwinkel aufzunehmen, so war ich stolz darauf, es recht schön und ansehnlich zu tun, und arbeitete oft noch bis tief in die Nacht hinein in meiner Hütte. Ich zeichnete manche Blätter doppelt und verwarf die minder gelungenen. Der Stoff wurde sachgemäss eingereiht. (…) Wir waren immer weiter vorgerückt, wir näherten uns der Grenzlinie unseres angewiesenen Bezirks immer mehr und mehr, endlich waren die Pflöcke auf ihr aufgestellt, es war bis dahin gemessen, und nach geringen schriftlichen Arbeiten war das Steinkar in seinem ganzen Abbilde in vielen Blättern in unserer Mappe. Die Stangen, die Pflöcke, die Werke wurden sofort weggeschafft, die Hütten abgebrochen, meine Leute gingen nach ihren Bestimmungen auseinander, und das Steinkar war wieder von diesen Bewohnern frei und leer.»

Hermann Löns: Verkoppelung. In Mein blaues Buch (1912)

Es geht ein Mann durch das bunte Land;
Die Meßkette hält er in der Hand.
Sieht vor sich hin und sieht sich um;
»Hier ist ja alles schief und krumm.«
Er mißt wohl hin und mißt wohl her;
»Hier geht ja alles kreuz und quer!«
Er blickt zum Bach im Tale hin;
»Das Buschwerk dort hat keinen Sinn!«
Zum Teiche zeigt er mit der Hand;
»Das gibt ein Stück Kartoffelland!«
Der Weg macht seinen Augen Pein;
»Der muß fortan schnurgerade sein!«
Die Hecke dünket ihm ein Graus;
»Die roden wir natürlich aus!«
Der Wildbirnbaum ist ihm zu krumm;
»Den hauen wir als ersten um!«
Die Pappel scheint ihm ohne Zweck;
»Die muß da selbstverständlich weg!«
Und also wird mit vieler Kunst
Die Feldmark regelrecht verhunzt.

Andrew Barton Paterson: The First Surveyor (um 1900)

Bei der Eröffnung der Eisenbahnlinie: der Gouverneur und alle sind
dabei. Mit Fahnen und Bannern entlang der Strasse, einem Bankett
und einem Ball. Sie jubeln dem Mann zu, der die Eisenbahn baute –
unser Freund, der Ingenieur.
(…)
Es war der Geometer, mein verstorbener Mann, der den Pass hinter
dem grossen roten Hügel fand. Lange bevor der Ingenieur geboren
wurde, arbeiteten wir hinter der grossen Bergkette, einer endlose
Felsenwüste.
(…)
Er verschwand in der Wildnis – Gott allein weiss, wohin er ging.
Er jagte bis sein Proviant ausging und kämpfte dennoch weiter.
(…)
Die anderen kamen nach und bauten die Städte,
und dann kam die Eisenbahn und dieser junge Ingenieur.
(…)
Mein armer alter Ehemann, tot und vergessen, ohne je ein Fest,
noch Anerkennung.

Aristophanes: Die Vögel (414 v. Chr.)
Die Vögel (projekt-gutenberg.org)

Meton tritt auf mit geometrischen Instrumenten
Meton: Ich such› euch heim –
Pisthetairos:                           Schon wieder so ein Unhold?
Was willst du hier? Was brütet dein Gehirn?
Was führt dich im Kothurnschritt her zu uns?
Meton: Vermessen will ich euch das luft’ge Land
Und juchartweis› verteilen –
Pisthetairos:                                 Alle Wetter!
Wer bist du?
Meton:                 Wer ich bin? Ich? – Meton, den
Ganz Hellas und Kolonos kennt!
Pisthetairos:                                       Sag an,
Was hast du da?
Meton:                       Das Meßzeug für die Luft!
Denn schau: die Luft ist an Gestalt durchaus
Backofenähnlich. – Nehmen wir das Reißzeug
Und setzen hier den krummgebognen Fuß
Des Zirkels ein – verstehst du?
Pisthetairos:                                     Nicht ein Wort!
Meton: Nun leg› ich an das Lineal und bild›
Ein Viereck aus dem Kreis – hier in die Mitte
Da kommt der Markt, und alle Straßen führen
Schnurgrad zum Mittelpunkt und gehn wie Strahlen
Von ihm, als kugelrundem Stern, gradaus
Nach allen Winden –
Pisthetairos:                     Hört! Ein zweiter Thaies! –
Meton!
Meton:       Was gibt’s?
Pisthetairos:                 Ich mein› es gut mit dir:
Drum folge mir und mach dich aus dem Staub!
Meton: Ist hier Gefahr?
Pisthetairos:                 Man treibt hier, wie in Sparta,
Die Fremden aus! Schon mancher ward beseitigt,
Und Prügel regnet’s in der Stadt! –
Meton:                                                   Ein Putsch?
Rebellion?
Pisthetairos:     Nicht doch!
Meton:                                 Was denn?
Pisthetairos:                                           Einmütig
Beschlossen ist’s – Windbeutel auszustäupen!
Meton: So muß ich mich zurückziehn?
Pisthetairos:                                         Leider ist’s
Vielleicht zu spät!
Schlägt ihn     Schon pfeift dir’s um die Ohren!
Meton: Ach Gott, ach Gott! Zieht ab
Pisthetairos:                       Hab› ich dir’s nicht gesagt?
Vermiß du jetzt woanders, du Vermeßner!